Die Alnatura Arbeitswelt in Darmstadt wurde mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur 2019 ausgezeichnet. Bernhard Hauke hat mit Thorsten Helbig und Thomas Auer gesprochen, die mit ihren jeweiligen Teams die Ingenieure hinter der einfachen und modernen Architektur von haascookzemmrich STUDIO2050 sind.
Wie weit wird nachhaltige Architektur von Architektinnen bestimmt und wo liegen die Beiträge der Ingenieurinnen?
Thomas Auer: Die Idee einer großen Lehmwand ist schnell formuliert. Aber es braucht einen Tragwerksplaner, der den Nachweis der Standsicherheit erbringt; einen Klimaingenieur, der den klimatischen Mehrwert aufzeigt; einen Unternehmer, der das baut und die Haftung trägt; einen Architekten, der die Lehmwand in den architektonischen Ausdruck integriert und nicht zuletzt den Bauherrn, der das mitgeht. Die Idee ist wertlos, wenn es kein Team gibt, diese zu materialisieren. Der Beitrag der Ingenieure, den ich nennen möchte, ist die synergetische Integration. Die Lehmwand hat eine klimatische Funktion und ist selbsttragend, keine vorgesetzte Schicht. Es sind diese Synergien, die letztlich gute Architektur ausmachen. Thorsten Helbig: Am Anfang braucht es rein architektonische Setzungen; werden von den Architekt*innen entscheidende Weichen gestellt. Als Sachwalter der Bauherren nehmen sie deren Ambitionen auf, hier besonders Nachhaltigkeit. Dann kommen die Ingenieure, deren Analysen die Entscheidungen maßgeblich informieren: Nachhaltigkeitsparameter wie Umwelteinwirkungen sind recht genau quantifizierbar. Ohne ein gut orchestriertes Zusammenspiel verschiedener Ingenieurkompetenzen könnten ressourceneffiziente Bauwerke nicht entwickelt werden.
Wie weit wird nachhaltige Architektur tatsächlich von ArchitektInnen bestimmt und wo liegen die essentiellen Beiträge der IngenieurInnen?
Thomas Auer: Architektur in ihrem Dreiklang von Ästhetik, Funktion und Engineering – frei nach Vitruv – fällt nicht vom Himmel; vielmehr ist sie das Ergebnis eines Prozesses. Das gilt im Besonderen für gute Architektur – wie immer man gute Architektur definiert. Rem Kohlhaas sagte, dass mindestens 50 % eines Werks auf die beteiligten Fachplaner und die ausführenden Firmen zurückgeht. Aber auch der Bauherr spielt eine gewichtige Rolle. Gerade bei Alnatura hatten wir das Glück einen aktiven und starken Bauherrn zu haben. Dem Bauherrn war sehr bewusst, dass dieses Gebäude stellvertretend für die Philosophie von Alnatura stehen muss und diese intern wie extern verkörpert. Es ist letztlich mühsam den Einfluss einzelner zu benennen und womöglich zu personifizieren. Dies wird dem Gebäude auch nicht gerecht; vielmehr müssen wir Architektur als das betrachten was es ist: ein Gemeinschaftswerk! Die Idee einer dreigeschossigen Lehmwand ist schnell formuliert. Es bedarf aber eines sehr guten und mutigen Tragwerksplaners, der den erforderlichen Nachweis der Standsicherheit erbringt; eines Klimaingenieurs der in der Lage ist den Nachweis des klimatischen Mehrwerts zu erbringen, denn die Fassade soll nicht nur schön sein; eines mutigen Unternehmers, der in der Lage ist die Fassade zu bauen und die Haftung zu tragen; eines guten und mutigen Architekten der die ästhetische Qualität der Hülle in den architektonischen Ausdruck integriert und die unterschiedlichen Ansätze synthetisiert und nicht zuletzt eines mutigen Bauherrn der das mitgeht. Die großartige Idee einer Lehmwand ist wertlos, wenn man kein Team hat, das in der Lage ist, so eine Idee sinnhaft – als integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts – dann auch zu materialisieren. Wenn man einen essentiellen Beitrag der Ingenieure benennen will, dann könnte man vielleicht die „synergetische Integration“ benennen. Beispielsweise hätte die Lehmwand nicht dieselbe Qualität, wenn sie keine klimatische Funktion übernehmen würde bzw. nicht selbsttragend wäre und stattdessen als Schicht auf eine tragende Wand aufgebracht worden wäre. Man würde wahrscheinlich von Ornament sprechen; was nicht zwangsläufig negativ sein muss. Trotzdem sind es diese Synergien die letztlich gute Architektur ausmachen. Wobei man die Alnatura Arbeitswelt keinesfalls auf die Lehmwand reduzieren sollte!
Thorsten Helbig: Am Anfang eines Projekts braucht es ja erst einmal (rein) architektonische Setzungen: wie wird das Programm in Flächen übersetzt, wo sind diese positioniert, wie wird das Gebäude in die Umgebung eingebunden usw. Da werden entscheidende Weichen von den Architektinnen ja schon gestellt, lange bevor wir Ingenieure überhaupt (im Regelfall) mit am Tisch sitzen. Und als ‚Sachwalter der Bauherren‘ sind die ArchitektInnen auch die Ersten, die deren Ambitionen in Sachen Nachhaltigkeit aufnehmen, im besten Fall verstärken und oft auch behutsam in eine wirkungsvolle Richtung lenken. Aber spätestens dann kommen die Ingenieure ins Spiel, weil deren präzise Analysen die wesentlichen Entscheidungsprozesse entscheidend informieren: schlussendlich sind Nachhaltigkeitsparameter wie Umwelteinwirkungen recht genau quantitativ erfassbar. Da wird es schnell sehr konkret und erfordert die vielfältige Kompetenz und Expertise eines gut aufgestellten interdisziplinären Teams. Ohne Ingenieurkompetenz diverser Fachsparten könnten ressourceneffiziente Bauwerke nicht entwickelt werden. Und es bedarf einer gut orchestrierten Abstimmung der Beiträge dieser spezialisierten Experten, die dann ganz klassisch von den Architektinnen übernommen wird.
Und an der Rollenverteilung der interdisziplinären Zusammenarbeit, ohne die beim heutigen Bauen ja sowieso nichts Substanzielles mehr entstehen kann, haben sich ja schon die Generationen vor uns abgearbeitet. ArchitektInnen muss man heutzutage nun wirklich nicht mehr erklären, weshalb die Beiträge der IngenieurInnen essentiell für das Gelingen von (nachhaltiger) Architektur sind: die richtig guten, kreativen ArchitektInnen wollen immer auch die richtig guten, innovativen IngenieurInnen im Team haben.
Und wenn wir jetzt feststellen, dass unsere Ingenieurbeiträge von der Öffentlichkeit nicht gebührlich gewürdigt werden, müssen wir uns wohl auch an die eigene Nase fassen. Wir müssen eben lernen über unsere Beiträge zu sprechen und zwar so, dass unser Beitrag für das nachhaltige Bauen von der breiten Öffentlichkeit auch verstanden werden kann.
Ziel des Klimakonzeptes war Einfachheit. Man könnte meinen, da gäbe es dann auch für das Klimaengineering nicht viel zu tun?
Thomas Auer: Es verhält sich eher wie mit dem Zitat, das je nach Quelle Voltaire, Goethe, Twain, Marx, Pascal, oder Claudius zugeschrieben wird: «Ich schreibe Dir einen langen Brief, weil ich keine Zeit habe, einen kurzen zu schreiben.» Einfachheit bedeutet immer weglassen von technischen Elementen dessen Funktion stattdessen passiv erbracht wird. Wir müssen ja auch mit wenig Technik eine Aufenthaltsqualität sicherstellen, die der derzeitigen Normung – dem Stand der Technik – entspricht.
Das Dachtragwerk wurde in mehreren Schritten entwickelt. Warum wurden am Ende massive Brettschichtholzbinder statt filigraner Holzfachwerkträger gewählt?
Thorsten Helbig: Natürlich ist ein aufgelöstes Tragwerk, wie zum Beispiel ein Fachwerk materialeffizienter als die hier eingesetzten biegebeanspruchten Balken. Eine Auflösung des Tragwerks in Druck- und Zugstäbe bedingt dann aber auch viele Stabanschlüsse. Im Holzbau – und der einzige nachwachsende Baustoff war ja von Anfang an gesetzt – geht das meist nur mit Stahlelementen. Mit der deutlich höheren Verarbeitungstiefe steigen die Kosten; die benötigten Stahlteile kommen mit einem Rucksack an grauer Energie und Kohlendioxidemissionen. Aus einer Nachhaltigkeitsperspektive betrachtet kann eine vermeintlich leichte, filigrane Struktur dann doch recht schwer wirken. Und architektonisch und funktional basiert das Gebäudekonzept auf Robustheit; auch deshalb wurde beim Entwerfen und Konstruieren das möglichst Einfache dem technisch Komplexen vorgezogen.
Die 12 Meter hohe Stampflehmfassade ist in diesen Dimensionen noch eher ungewöhnlich. Wie sieht es hier mit der konkreten Bestimmung der klimatischen und ökobilanziellen Performance aus?
Thomas Auer: Den klimatischen Mehrwert hinsichtlich einer Regulierung der Raumluftfeuchte haben wir nicht nur in der Simulation, sondern auch bereits im Betrieb nachgewiesen. Dies ist ein essentieller Beitrag im Hinblick auf eine erhöhte Feuchtebelastung, die durch den Klimawandel erwartet wird. Derzeit noch wichtiger ist der Aspekt, dass Menschen sich leichter mit Infektionskrankheiten anzustecken, wenn die Schleimhäute aufgrund einer geringen Raumluftfeuchte im Winter austrocknen. Die Ökobilanz war jedoch im Monitoring leider nicht so positiv wie wir das erwartet hatten. Der Transport des Lehms über eine Distanz von mehr als 200 km hat die Ökobilanz derart belastet, dass eine konventionelle Wand besser abgeschnitten hätte. Wir haben daraus gelernt, dass die Rohstoffgewinnung vor Ort eine zentrale Voraussetzung ist.
Die Stampflehmfassade ist selbsttragend. Wie wurden für diese Größenordnung die Baustoff- und Bauteileigenschaften für die statischen Nachweise ermittelt und am Ende auch überprüft?
Thorsten Helbig: Lehm ist eines der ältesten Baumaterialien, wir Menschen kennen Lehm als Baustoff seit mehr als 10.000 Jahren. Lehm ist aber nur schwer in einer Industrienorm zu fassen: die Festigkeitswerte streuen nach Art und Zusammensetzung der Zuschlagstoffe, Verdichtungsgrad und Feuchtegehalt. In Deutschland kann man sich bei der Bemessung auf die Materialkennwerte der bauaufsichtlich eingeführten Lehmbauregeln beziehen. Für die Alnatura-Lehmfassade gab es dann im Zuge der Zustimmung im Einzelfall ein eigens entwickeltes Material-Testprogramm, mit dem wir die tatsächlich erreichten Festigkeiten nachvollzogen haben.
Rückblickend aus Ingenieurssicht, was waren die größten Herausforderungen bei der Alnatura Arbeitswelt?
Thomas Auer: Die größte Herausforderung besteht mal wieder darin die Mess-, Steuer- und Regelungstechnik so zum Funktionieren zu kriegen, dass die verbleibende Technik auf die passiven, natürlichen Prozesse abgestimmt ist. Das beschäftigt uns leider bis heute.
Thorsten Helbig: ‚… das Einfache, das schwer zu machen ist‘ (Brecht). Als Ingenieure sind wir ja darauf trainiert, auf die steigenden Anforderungen mit immer komplizierteren Lösungen zu reagieren. Reduktion als Entwurfsansatz zwingt zu großer Disziplin, da (zurecht) einfach kein Raum für technisch komplexes ‚Pirouetten drehen‘ eingeräumt wird. Das war für unser Team wohl die größte Herausforderung und für mich persönlich die wertvollste Erkenntnis aus dem Projekt.
Thomas Auer ist Professor für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen an der TU München und in der Geschäftsleitung von Transsolar Klimaengineering. Seine Projekte zeichnen sich durch die architektonische Integration der Klimastrategien aus, die Forschung widmet sich der klimagerechten Adaption von Architektur.
Thorsten Helbig ist Gründungspartner von Knippers Helbig advanced engineering und lehrt als Associate Professor an der Irwin S. Chanin School of Architecture, The Cooper Union, New York.
Mehr dazu im Jahrbuch Ingenieurbaukunst 2021: www.ernst-und-sohn.de/ingenieurbaukunst-2021
- Ein traditioneller Baustoff neue interpretiert – Die Alnatura Arbeitswelt in Darmstadt. Thorsten Helbig, Matthias Oppe
- Because we can? – Fluch und Segen der modernen Glasarchitektur. Thomas Auer, Laura Franke
Mitdiskutieren: 3. Symposium Ingenieurbaukunst - Design for Construction 2021 am 18. November 2021 in Frankfurt/M. Wie bauen wir zirkulär? Info und Anmeldung: www.ingd4c.org