Neue Nationalgalerie Berlin – Guten Morgen, du Schöne

Neue Nationalgalerie Berlin – Guten Morgen, du Schöne

Die Neue Nationalgalerie am Kulturforum ist das Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts der Berliner Nationalgalerie. Das stilprägende Bauwerk der klassischen Moderne von Mies van der Rohe wurde nach fünf Dekaden intensiver Nutzung für den zweiten Lebenszyklus ertüchtigt und wird am 21. August 2021 wiedereröffnet. Bernhard Hauke hat mit dem Ingenieur Jorg Enseleit und dem Architekten Michael Freytag über die Sanierung gesprochen.

Die zeitlose Ikone der Moderne wurde auf die Höhe der Zeit gebracht. Was war erforderlich?

Michael Freytag: Das Gebäude hatte nach fast 50 Jahren intensiver Nutzung und ohne umfassende Sanierungsmaßnahmen das Ende des ersten Lebenszyklus erreicht. Neben baulichen und technischen Mängeln wie gebrochene Glasscheiben, stehendem Wasser auf den Dächern, defekten Grundleitungen, unqualifizierten Türen in Fluchtwegen, nicht fachgerecht ausgeführten Brandschottungen und einer überalterten Haustechnik gab es erhebliche Defizite in der Nutzung. Die Besucherinfrastruktureinrichtungen wie Garderobe und Museumsshop entsprachen bei Weitem nicht mehr den heutigen Anforderungen. Es fehlte an einer stufenlosen Erschließung der Terrasse und des Untergeschosses. Das Gebäude war räumlich nicht mehr auf einen internationalen Kunstverleih eingerichtet. Vor diesem Hintergrund war die Grundinstandsetzung unbedingt erforderlich.

Blick auf die Neue Nationalgalerie von der Potsdamer Straße, Quelle: BBR / Marcus Ebener

Was waren insbesondere die Themen der Tragwerksplanung?

Jorg Enseleit: Die Stahlkonstruktion der oberen Ausstellungshalle ist ein über circa 65 Meter freitragender Stahlträgerrost. Eine wesentliche Fragestellung der Tragwerksplanung war, die Verformungen des Daches aus unterschiedlichen Einwirkungen, wie Wind, Schnee und insbesondere Temperatur, sicher vorauszusagen.

Der Stahlträgerrost ist charakteristisch: Wie lassen sich die maßgebenden temperaturbedingten Verformungen beherrschen?

JE: Verformungen eines Einzelbauteils sind ja erst mal nichts Schlimmes. Es kommt darauf an, die Anschlüsse an die angrenzenden Bauteile so zu gestalten, dass sie die Verformungen aufnehmen können. Dazu war eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Bauphysikern erforderlich, um eine realistische Abschätzung der Temperaturfelder im Stahlträgerrost bei unterschiedlichen Witterungsbedingungen als Grundlage unserer Berechnungen zu erhalten. Gegenüber dem Bestand vor der Sanierung veränderten sich die Temperaturbedingungen aufgrund des Einbaus einer zusätzlichen Innendämmung. Gleichzeitig war es aus Sicht des Denkmalschutzes nicht möglich, die Anschlussfugen zwischen Fassade und Dach zu vergrößern, um hier mehr Sicherheit zu generieren. Es musste daher im Rahmen der Sanierung der Fassade mit sehr geringen Bautoleranzen gearbeitet werden um ein möglichst großes Bewegungsspiel aus den Verformungen des Daches in der Anschlussfuge zu erreichen.

Was war bei der großflächigen Stahl-Glas-Fassade wichtig?

M.F.: Die erste Frage war der Umgang mit dem anfallenden Kondensat und damit verbunden der thermisch nicht getrennten, bauzeitliche Fassadenkonstruktion mit Einfachverglasung. Aus denkmalpflegerischer Sicht war die Strahlkraft der Ikone maßgeblich. Zweiter Punkt war der Umgang mit den konstruktiven Mängeln, wie der unsachgemäße Anschluss an das Dach und die fehlenden Ausdehnungsmöglichkeiten der Gesamtkonstruktion, was aufgrund der thermischen Ausdehnung regelmäßig zu Schäden an der Fassade führte. Ein dritter Aspekt war die Sicherheit. Der Einbruchschutz und die Gefahr für die Besucher durch Glasbruch mussten verbessert werden.

Was bedeutete das statisch-konstruktiv?

J.E.: Die erste Frage wurde in großer Einstimmigkeit aller Beteiligten mit dem Erhalt der bauzeitlichen Konstruktion beantwortet. Auf dieser Basis wurde dann das statische System der Fassade geändert: Die horizontal bisher starre Verbindung zum Dach wurde, soweit konstruktiv möglich, aufgelöst, insbesondere in den Ecken. Die Glasscheiben der Eckfelder der Fassade wurden statisch wirksam verklotzt, um die Eckbeanspruchung aus zwei Richtungen zu vermeiden. Zur Aufnahme der thermischen Ausdehnungen wurden auf jeder Fassadenseite drei sogenannte Dehnpfosten eingebaut. Die Pfosten, äußerlich genauso ausgebildet wie die normalen Pfosten, können in sich Bewegungen aufnehmen. Die Einscheibenverglasung wurde durch eine teilvorgespannte VSG-Scheibe mit einer Sicherheitsfolie zwischen den Glasscheiben ersetzt. Dazu mussten lediglich die Glasleisten in der Tiefe um 5 Millimeter eingekürzt werden.

Beim Sockelgeschoss mit vorgehängter Natursteinfassade gab es ebenfalls Herausforderungen?

J.E.: Der Hauptteil unserer Arbeit lag im Sockelgeschoss. Hier waren unter anderem ein unterirdisches Magazingebäude, eine Techniktrasse durch den Bestand und Räume für die Wärmerückgewinnung deutlich unter dem aktuellen Grundwasserspiegel neu zu planen. Die Herausforderung dabei war, dass von diesen ganzen Neu- und Umbauten der Museumsbesucher nichts zu sehen bekommen und alles nach wie vor wie von Mies van der Rohe geplant aussehen soll. Für die Sanierung der Natursteinfassade im angrenzenden Skulpturengarten konnten wir sogar eine kleine Verbesserung im Sinne von Mies erreichen. Einige nicht gewollte, aber damals erforderliche Dehnungsfugen konnten nach der Sanierung entfallen.

Dr.-Ing. Jorg Enseleit ist geschäftsführender Gesellschafter der GSE Ingenieur-Gesellschaft in Berlin sowie Prüfingenieur für Standsicherheit.
Michael Freytag ist Associate bei David Chipperfield Architects in Berlin.

Mehr dazu im Jahrbuch Ingenieurbaukunst 2022: www.ernst-und-sohn.de/ingenieurbaukunst-2022 • Denkmalgerechte Sanierung des Tempels der klassischen Moderne – die Neue Nationalgalerie in Berlin. Jorg Enseleit, Torsten Glitsch, Michael Freytag, Michael Pfister, Jochen Schindel, Ingo Weiss.

Mitdiskutieren: 3. Symposium Ingenieurbaukunst - Design for Construction 2021 am 18. November 2021 in Frankfurt/M. Wie bauen wir zirkulär? Info und Anmeldung: www.ingd4c.org