Alte Konstruktionsweise zeitgenössisch

Alte Konstruktionsweise zeitgenössisch

Eine alte Konstruktionsweise mit heutigen Mitteln neu zu interpretieren ist eine spannende Sache. Klaas De Rycke gibt Einblicke, wie das bei einer unregelmäßigen Dachschale mit einer Konstruktion wechselseitiger Rahmen aus einfachen Holzbalken mit Hilfe parametrischer Planung gelungen ist.

Der Reciprocal Frame oder wechselseitige Rahmen ist ein simples, altes Strukturprinzip. Mit drei Worten: Wie funktioniert das?

Es ist ein räumliches Tragwerk, das auf einem Balkensystem aus drei oder mehr Balken beruht, die sich wechselseitig stützen und kein zusätzliches Auflager brauchen. Man kann sich das wie bei einem Tipi vorstellen, bei dem sich die Stäbe in der Mitte gegenseitig halten. Nur liegen bei uns die Balken in einer Ebene und es sind viel mehr Stäbe.

Seitenansicht des fertigen Frans Masereel Centrums. Foto: Jeroen Verrecht

Können Sie quantifizieren, wie groß am Ende der Vorteil des Reciprocal Frame in Sachen Ressourceneffizienz gegenüber einer Lösung mit Holzleimbindern oder auch einem stählernen Stabnetztragwerk war?

Wichtig war mir insbesondere, dass keine verleimten Holzbinder verwendet werden, sondern nur Massivholz. Die aufzuwendende Quantität ist ähnlich, aber die kleinen Holzbalken sind prinzipiell viel einfacher zu fertigen und zu montieren. Das hat etwas von einfachem Bauen. Eine Stahllösung kam hier aus gestalterischen Aspekten und aus Umweltgründen nicht in Frage.

Blick in den Innenraum. Foto: Jeroen Verrecht

Die Entwicklung und Optimierung der Rahmenstruktur ist stark von den statischen Randbedingungen und den genetischen Algorithmen geprägt. Wo können die Ingenieure eingreifen und wo ist die Handschrift des Architekten ablesbar?

Die grundsätzliche Dachform kommt von den Architekten. Die Randbedingungen haben wir dann gemeinsam festgelegt. Bei der eigentlichen Struktur haben wir uns stark eingebracht. Die ursprünglich gewünschte Betonschale kam für mich nicht in Frage. Unsere Ideen waren Holz als leichtes Material, einfach zu handhabende Elemente sowie das Prinzip des Reciprocal Frame als kontinuierliches Raster ohne Hierarchien. Wir haben etliche strukturelle Parameter in Form einer Sensibilitätsanalyse untersucht, damit mögliche Lösungen herausgearbeitet und diese jeweils wieder mit den Architekten abgestimmt. Der parametrische Ansatz mit genetischen Algorithmen entspricht genau diesem Vorgehen mit Testen und Finden von teilweise unerwarteten Lösungen.

Blick in die verstreut liegenden Innenräume. Die sichtbar montierten Lüftungsrohre betonen den Werkstattcharakter. Foto: Jeroen Verrecht

Wie erfolgt in einem solchen Fall der Dialog mit der Bauausführung?

Es beginnt mit der Suche nach der richtigen Baufirma, die auch etwas Ungewöhnliches mitmachen möchte. Es gibt in Belgien nicht so viele Firmen, die komplexen Holzbau können oder sich so weit engagieren wollen. Am Ende hatten wir Glück mit der Baufirma und es gab eine Vertrauensbasis aus früheren Projekten. Nur so funktioniert der Dialog im Ramen der gewünschten Ästhetik und technischen Finesse. Ein bisschen ist das ein Wiederspruch: das Strukturprinzip mit den kurzen Balken ist simpel, die Anforderung an die Präzision der geometrisch variablen Ausführung mit doppelter Schnittführung hingegen nicht.

Klaas De Rycke ist Geschäftsführer von Bollinger+Grohmann Ingenieure in Paris und Brüssel sowie Professor an der École Nationale Supérieure d’Architecture de Versailles und Senior Lecturer an der UCL London.

Foto: Bollinger+Grohmann

Mehr dazu auch im Jahrbuch Ingenieurbaukunst 2021.

Beim 3. Symposium Ingenieurbaukunst – Design for Construction 2021 wurde in Frankfurt/Main die Frage diskutiert: Wie bauen wir zirkulär? Mehr dazu auf dem IngD4C Blog: www.ingd4c.org