Der Bauingenieur Mike Schlaich hat mit seinen Mitarbeitern an der TU Berlin den Werkstoff entwickelt, der mit der Betonoase in Berlin-Lichtenberg zum ersten Mal an einem öffentlichen Gebäude zum Einsatz kam: Infraleichtbeton. Der Hochleistungsbeton ist leichter als Wasser und trägt und dämmt zugleich. Für das Jahrbuch Ingenieurbaukunst 2020 hat Mike Schaich einen Beitrag zum Infraleichtbeton verfasst. Beim Symposium Ingenieurbaukunst – Design for Construction wird Mike Schlaich zusammen mit Sven Plieninger (sbp) Infraleichtbeton vorstellen und auch auf die Betonoase eingehen.
Josepha Landes von der Bauwelt hat mit Mike Schlaich über Infraleichtbeton gesprochen:
Welche Themen umfasst Ihr Forschungsbereich an der TU Berlin?
An meinem Lehrstuhl befassen wir uns mit Entwerfen und Konstruieren von Tragwerken und sind dabei werkstoffübergreifend aufgestellt. Es ist eher ungewöhnlich, dass wir drei Professuren zum Entwerfen und Konstruieren haben. Normalerweise gibt es an den Universitäten Professuren für Massivbau, Stahlbau und Holzbau. Wir sind konstruktive Ingenieure, lehren das Konzipieren, das Berechnen und das Durchkonstruieren von Tragwerken. Die Studenten machen bei uns werkstoffübergreifend Entwürfe – wie bei den Architekten, und wir arbeiten auch mit ihnen zusammen.
Darüber hinaus entwickeln Sie neue Baustoffe.
Wir forschen zum Beispiel seit über zehn Jahren zu Infraleichtbeton. Wir sind der Meinung, dass dieser Werkstoff eine Alternative zum klassischen Sichtbeton ist.
Hatten Sie historische oder andere Vorbilder für den Leichtbeton?
Leichtbetone gibt es schon seit den Römern, das Pantheon ist aus Leichtbeton. In den 1960er Jahren wurden damit die Marina Towers in Chicago gebaut. Auch Gruber + Popp Architekten haben schon früher mit Leichtbeton gearbeitet: die Tramhaltestelle am Berliner Hauptbahnhof ist aus Leichtbeton. Wir sind inspiriert worden von den Schweizern, dort werden schon seit Längerem alle möglichen Häuser aus Leichtbeton gebaut.
Gibt es vergleichbare Forschungen?
Auf dem Feld des Leichtbetons gibt es schon viele, etwa in der Schweiz wie gesagt, aber ich würde sagen, mit Infraleichtbeton sind wir führend.
Welche Eigenschaften zeichnen Infraleichtbeton aus?
Infraleichtbeton ist eine tragende Wärmedämmung. Das erreicht man durch Zuschläge, die ihn leichter als leicht machen – also infraleicht – und mit einer Dichte von weniger als 800kg/m³ noch unterhalb von Leichtbeton ansiedeln. So leicht und so porös, wie der Stoff ist, erfüllt er die EnEV. Mit einer 50 Zentimeter dicken Wand aus Infraleichtbeton lässt sich Passivhausstandard erreichen.
Die Dämmfunktion gab also den Anstoß für die Entwicklung?
Das war definitiv eine Zielsetzung. Uns hat nicht gefallen, dass Neubauten oft hohl klingen, also nichts Beständiges vermitteln. Verbundsysteme bestehen zudem aus vielen Lagen: Glasfasergewebe und Styropor und Epoxid und Farbe und Gips. Das ist auch ein Recyclingproblem.
Das Recycling von Infraleichtbeton ist unproblematisch?
Ja, er kann gebrochen und wiederverwendet werden.
Wie steht es um die Ökobilanz der Zuschläge?
Infraleichtbeton ist weder ein Wundermaterial noch eine Revolution. Die Zuschlagsstoffe haben natürlich ihre Päckchen zu tragen. Bei der Herstellung von Zement, einem Hauptbestandteil jeglichen Betons, wird sehr viel CO2 freigesetzt. Die Blähtonkügelchen, die wir als Zuschlag nehmen, muss man auch mit viel Energie aufblähen. Infraleichtbeton ist also nicht das Ei des Kolumbus, aber er vereinfacht das Bauen extrem. Je mehr Baustoffe an einem Gebäude als Schichtkonstruktion im Spiel sind, umso aufwendiger werden die Details. Alle Anschlüsse sind letztlich gefährdet, dass Wasser reinläuft. Die Schichten sind wenig druckfest, etwa wenn der Specht dran klopft oder ein Ball anprallt, dann kommt die Brandgefährdung hinzu usw.
Gibt es bestimmte Anforderungen an die Oberflächenbehandlung oder die Bewehrung?
Die Fassade kann so stehen bleiben, wie sie aus der Schalung kommt, aber natürlich kann man sie je nach Wunsch auch tünchen. Die Bewehrung empfehlen wir vorläufig noch zu verzinken. Beim ersten Haus aus Infraleichtbeton, das wir 2007 in Berlin-Pankow gebaut haben, haben wir noch Glasfaserstäbe verwendet. Auf der sicheren Seite wäre man auch mit Carbon oder Basalt. Vielleicht ist so viel Vorsicht aber gar nicht nötig. Gerade testen wir an einer Garage sogar normale Bewehrung.
Wie sind Sie beim Projekt Betonoase mit Gruber + Popp in Kontakt gekommen?
Wir kannten uns schon von der Arbeit an dem Tram-Dach. Gruber + Popp gehören zu den Architekten, die den Tragwerksplaner von Anfang an ins Team holen. Man entwirft zusammen, sitzt gemeinsam am Tisch und plant, und jeder bringt seine Ideen ein. An der Betonoase haben wir schon im Wettbewerb zusammengearbeitet.
Welche entwurflichen Konsequenzen des Baustoffs haben den Architekten die größtenHerausforderungen auferlegt?
Der Infraleichtbeton verhält sich ein bisschen wie Mauerwerk. Sie können keine zu großen Auskragungen bauen. Sobald im großen Stil Biegung entsteht, stößt er an seine Grenzen. Wir haben aber bei der Betonoase gezeigt, dass ein paar Meter Auskragung oder fünf Meter Balken kein Problem sind. Wie bei jedem Baustoff muss man werkstoffgerecht entwerfen. Infraleichtbeton kriecht und schwindet auch etwas mehr als normaler Beton, deshalb sollte man möglichst zwängungsfrei bauen. Aber man kann klar sagen, dass der Entwurf, und vor allem die Details, einfacher werden.
In welchem Zusammenhang steht Ihre Lehr- und Forschungstätigkeit mit der Arbeit im Ingenieur-Büro?
Beide Bereiche sind formal komplett unabhängig. Aber natürlich kann die Erfahrung aus der Praxis die Uni bereichern. Zuerst einmal geht es darum, dass aus dem Büro Ideen kommen, die dann in der Forschung Sinn machen. Die Uni ist der Raum, der die Zeit bietet, um die Probleme, denen man im Büro-Alltag begegnet, zu lösen. Die Arbeit am Infraleichtbeton hat zehn Jahre gebraucht. Wenn man Praxis und Theorie koppelt, bleibt das Risiko überschaubar – denn es gibt keine Innovation ohne Risiko. Das Tolle an der Betonoase ist, dass auch die Architekten bereit waren, sich auf das Risiko einzulassen, genauso wie der öffentliche Bauherr. Die Verwaltung und die Gemeinde Lichtenberg kann man wirklich als innovationsoffen und mutig bezeichnen. Nur weil alle an einem Strang gezogen haben – alle Planer und der Bauherr und die Senatsverwaltung, denn man braucht ja eine Zustimmung im Einzelfall – hat das Projekt so gut funktioniert.
Wie verlief die Zustimmung im Einzelfall?
Solange ein Werkstoff oder eine Baumethode noch nicht durch die Norm abgedeckt ist – das ist bei Infraleichtbeton der Fall – brauchen Sie für Ihr Projekt diese Zustimmung im Einzelfall (ZiE). Am Zulassungsprozess sind die pla-nenden Architekten und Ingenieure, ein Gutachter und eine Prüfstelle beteiligt. Unser Gutachter war Professor Curbach von der TU Dresden. Die Versuche haben wir an der TU Berlin gemacht. Professor Curbach hat diese Versuche dann für die Senatsverwaltung beurteilt, die daraufhin eine Zustimmung im Einzelfall erteilt hat. Jetzt, wo dieser Beton schon einmal, für diese spezielle Aufgabe, eine Zustimmung bekommen hat, wird es einfacher für jedes weitere Projekt.
Für welche Einsatzgebiete bietet sich Infraleichtbeton an?
Für den klassischen Hochbau, vom Ein- bis zum Mehrfamilienhaus. Mit Barkow Leibinger Architekten planen wir einen Zwölfgeschosser aus Fertigteilen.
Ist Infraleichtbeton eher geeignet als Ortbeton oder für Fertigteile?
Es gibt beides. Grundsätzlich kann man sagen, wenn es klein ist, kann man es prima in Ortbeton machen. Ortbeton ist an sich schöner, weil sie fugenlos arbeiten können.
Aber immer mit den Schichtungen, die man bei der Betonoase sieht.
Ja, wenn Ihnen das nicht gefällt, müssen Sie rütteln und verdichten, damit die Lagen weggehen, oder drüber streichen. Das ist aber eher eine kosmetische Sache. Da geht es ja mehr um Wirtschaftlichkeit und Dauerhaftigkeit. Ich bin Sichtbeton-Fan. Wenn es schnell gehen soll und die Platzverhältnisse beengt sind, macht es mehr Sinn, auf Fertigteile zurückzugreifen. Wenn sie ein großes Gebäude planen, wie wir das mit Barkow Leibinger vorhaben, dann ist natürlich schon toll, wenn man einen „Bauklotz“ auf den anderen stellen kann. Dann gibt es auch kaum mehr Fugen, denn weil der Beton so leicht ist, können die Fertigteile raumhoch sein.
Ist eine Zulassung für den Infraleichtbeton absehbar?
Da wird schon dran gearbeitet. Die Industrie hat großes Interesse daran. Die Zulassung wird vom Deutschen Institut für Bautechnik erteilt; aber das braucht natürlich seine Zeit.
Kann Infraleichtbeton also Serienreife erlangen?
Er hat die Serienreife bereits erlangt, denn eine Zustimmung im Einzelfall, das hat ja die Betonoase gezeigt, ist problemlos zu erhalten. Der Beton ist reif für die Praxis.
Welche anderen Werkstoffe entwickeln Sie an Ihrem Institut?
Für das Tram-Dach mit Gruber+Popp war viel Entwicklungsarbeit auch für hochfeste Leichtbetone nötig. Vor allem aber beschäftigen wir uns mit Carbonfasern. Man kann daraus Seile bauen oder Spannbeton vorspannen. Eine Schwachstelle vieler vorgespannter Brücken ist ihre Stahlbewehrung. Anders als Stahl korrodiert Carbon nicht.
Dieses Gespräch ist bereits in der Bauwelt erschienen.
Mike Schlaich, geb. 1960, 1979–1985 Bauingenieurstudium Universität Stuttgart, ETH Zürich; 1989 Promotion an der ETH Zürich; 1990–1993 Bauingenieur bei FHECOR, Beratende Ingenieure in Madrid; seit 1993 schlaich bergermann partner, seit 1999 Partner bei sbp; seit 2004 Professor am Institut für Bauingenieurwesen TU Berlin; seit 2005 Prüfingenieur für Baustatik; 2016 Goldmedaille der “Institution of Structural Engineers, London“; seit 2017 Mitglieder der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
<figcaption>Wohnhaus in Berlin (aus Infraleichtbeton: Handbuch für Entwurf, Konstruktion und Bau), Foto: Mike Schlaich</figcaption></figure>