Ingenieurbaukunst ist eine leise Kunst

Ingenieurbaukunst ist eine leise Kunst

Helmut Schmeitzner wurde im Herbst in den Beirat des Jahrbuches Ingenieurbaukunst berufen. So denkt er über Ingenieurbaukunst und das Jahrbuch:

Wollte man den Versuch unternehmen, die Künste in „laute“ und „leise“ zu unterteilen, käme man wohl nicht umhin, die Ingenieurbaukunst der zweitgenannten Gruppe zuzuordnen. Die Erbringung von Ingenieurleistungen erfolgt zumeist eher im Verborgenen. An der Rampe stehen stets die Architekten, deren Gesichter man demzufolge auch in der Regel mit den von ihnen erschaffenen Bauwerken assoziiert, auch wenn sie diese ja nicht allein errichtet haben. Das ist allgemein bekannt und könnte als Binse gelten. Aus der Sicht der Ingenieure wird dieser Umstand gern und oft beklagt, allerdings, wenn man ehrlich ist, meist von den Standesvertretern dieses Berufs. Der als Projektleiter, Tragwerksplaner oder Mitarbeiter in einer Bauverwaltung tätige Ingenieur ist vielleicht ganz zufrieden damit, nicht allzu sehr im Licht der Öffentlichkeit zu stehen und sich auf seine originären Aufgaben konzentrieren zu können. Meines Erachtens liegt in dieser Scheu, die man auch gern Bescheidenheit nennen kann, einer der Gründe dafür, dass der Berufsstand der Ingenieure in der Gesellschaft und in einer Zeit, in der die permanente Jagd nach Aufmerksamkeit viele Energien bindet, nach wie vor hohe Achtung genießt. In der Zurückhaltung der Ingenieure und Ingenieurinnen liegt also auch ein großer Vorteil.

Ich weiß nicht, wer den Begriff „Ingenieurbaukunst“ geprägt hat, und seit wann er mehr oder minder breite Verwendung findet. Schön ist jedenfalls, dass es ihn gibt. Das Wirken der Ingenieure als Kunst zu bezeichnen ehrt ihren Beruf – und das zu Recht, denn Kunst hat viel mit Könnerschaft zu tun. Ungefähr zweihundert Jahre lang, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, haben Könner ihres Faches auf der Grundlage der sich während der Aufklärung stürmisch entwickelnden Theorien der Mechanik immer wieder neue Berechnungsmethoden entwickelt, die ihnen die Realisierung oftmals bahnbrechender Bauwerke ermöglichten. Die Beherrschung der Bemessung war über diese ganze Zeitspanne hinweg das zentrale Problem des Bauingenieurwesens. Heute haben es Ingenieure an dieser Stelle etwas leichter, da ihnen vielfältige Softwarelösungen zur Verfügung stehen. Darin liegt eine Chance, aber auch eine Gefahr: Sich stärker um die kreativen Aspekte der Ingenieuraufgaben kümmern zu können, anstatt sich allein mit der Bemessung herumschlagen zu müssen, stellt gewiss einen Vorteil dar. Sich mit der Bemessung herumschlagen zu müssen bedeutet jedoch andererseits, sich auch mit den Eigenschaften des Materials intensiv auseinandersetzen zu müssen; das heißt mit den Möglichkeiten, die es bietet, und den Grenzen, die es dem Konstrukteur auferlegt. Ich nenne diese Auseinandersetzung materialgerechtes Konstruieren. Unterbleibt sie, können „eingebaute Schäden“ und oftmals auch in ästhetischer Hinsicht weniger befriedigende Lösungen die Konsequenz sein. Es liegt an uns, die mächtigen Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, klug zu nutzen.

Helmut Schmeitzner geb. 1962, 1980- 1986 Bauingenieurstudium TU Berlin; 1986 – 1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter Institut für Mechanik TU Berlin, 1992 Promotion; 1992 – 1998 Bilfinger + Berger Berlin, ab 1995 Leiter Arbeitsvorbereitung; seit 1998 Professur und Studiengangsleiter Bauingenieurwesen HWR Berlin; seit 2020 Vorstandsmitglied Bundesingenieurkammer

Zum Jahrbuch Ingenieurbaukunst 2022 findet am 18. November das 3. Symposium Ingenieurbaukunst - Design for Construction 2021 statt und diskutiert die Frage: Wie bauen wir zirkulär?

Programm und Anmeldung: www.ingd4c.org

Prof. Dr.-Ing. Helmut Schmeitzner, Foto: Christian Vagt/BIngK